Wenn wir erwachsen sind, haben wir einen anderen Blick auf unsere Mutter – den einer «erwachsenen Frau», die theoretisch nicht mehr abhängig ist von ihr. Und die im Leben einiges vermisst. Und wer ist daran schuld? Ganz klar, die Mutter natürlich – so so 😉
Nun «durchschauen» wir, was Mutter alles falsch gemacht hat, wir sehen ihre «Fehler», oder nun wissen wir, was sie als Mutter hätte geben MÜSSEN. Nicht wahr? Wie fühlst du dich mit diesem Gedanken? Im Recht?
Über dein Recht können wir gern ein anderes Mal streiten, nicht aber hierüber: solange du emotional in der Vergangenheit, an anderen Menschen wie eben an deiner Mutter hängst – solange bist du unfrei und lebst nicht selbstbestimmt. Wenn du mit der Aufmerksamkeit (also mit deiner Energie) woanders bist, als bei dir – steht sie dir nicht zur Verfügung im Hier und Jetzt. Und gerade die Gefühle im Bezug auf die Mutter sind die intensivsten. Sie können am meisten zehren und auch am meisten nähren.
Tochterrolle: Die Zukurzgekommene
Meine erwachsene Tochter, Ingenieurin, sagte mir: «Ich möchte auch so bescheuert (Anmerkung: lernbehindert) sein wie mein Bruder, der fällt immer weich.» Der Auslöser dieser Äußerung war eine Küdigung ihres Arbeitgebers. Mit den Worten, vielleicht ist es ja dein Glück, du hast Berufserfahrung, auf dich wartet eine neue Herausforderung, wollte ich sie positiv motivieren. Sie wünschte das ich mich kümmere, sie unterstütze und bedauere, so wie sie das bei ihrem Bruder erlebte. Die emotionale Bedürftigkeit meiner Tochter habe ich nicht erkannt. Empathie in der Generation der (Nach)Kriegkinder hielt sich in überschaubaren Grenzen. Heute würde ich sicher andere Worte finden.
Liebe Karla, deine Älteste ist wütend, das ist deutlich. Gleichzeitig schmerzt sie ihre Wut, die ist ja nur ein Schutz. Ein Kind, das Wut empfindet auf Menschen, die es eigentlich liebt (die Mutter und den Bruder in eurem Fall), bestraft sich gleichzeitig dafür, hat Schuldgefühle deswegen. Und deine Tochter glaubt, ihre Lösung liegt darin, dass du ihr endlich das gibst, was sie als Kind vermisst hat. Darin liegt ein Missverständnis, dem die meisten Töchter unterliegen. Auch wenn du dir nicht sicher sein kannst diesbezüglich. Du als Mutter hast jedenfalls gegeben, was du konntest. Doch wir alle sind Teil eines Familiensystems, das oft sehr komplex ist und die Ursachen für Probleme sind häufig ganz andere, als wir vermuten. Genaueres kann ich nur im Einzelgespräch herausfinden. Alles Liebe, Gesine